Die ersten Jahre in Wien

Als Michael Thonet im Frühjahr 1842 in Wien eintrifft, ist er aufgrund seiner finanziellen Situation nicht in der Lage, eine eigene Werkstatt zu gründen. Was ihm jedoch in Preußen verwehrt wurde, erhält er hier bereits am 16. Juli, nur wenige Wochen nach seiner Ankunft: Das Privileg, „jede, auch selbst die sprödeste Gattung Holz auf chemisch-mechanischem Wege in beliebige Form und Schweifung zu biegen“.

Von 1842 bis 1844 arbeitet er bei dem Möbelfabrikanten Clemens List, wo er „billige Sessel aus gebogenem Holz“ herstellt. Vermutlich waren es Sessel der Art wie sie hier - Mitte - zu sehen sind: Rückenlehnholme und die Seitenteile des Sitzes sind in der aus der Bopparder Zeit bekannten Technik der Schichtverleimung ausgeführt, während die Beine aus Massivholz bestehen. Die Herstellung der Bopparder „Schlaufenbeine“ wird anfangs wohl zu aufwendig gewesen sein, und es standen in Wien auch keine Gesellen zur Verfügung, die mit dieser Art der Herstellung vertraut waren. Der älteste Sohn Franz kommt im Frühjahr 1843 nach Wien. Es entstehen die Bopparder Sitzmöbel in leicht veränderter Form: Bei dem in Wien hergestellten Kanapee - oben - und den formal ähnlichen Sesseln ist das Lehnhaupt nun durchbrochen gearbeitet und die vordere Sitzzarge zeigt die gleiche Form, wie wir sie auch bei dem einfachen Bopparder finden.

Bei dem „Bopparder Laufsessel“ - unten zu sehen - handelt es sich um ein Modell, welches Michael Thonet nur in Wien hergestellt haben kann. Stilistisch gibt es nicht annähernd ein Modell aus dem Mainzer Raum, welches hiermit vergleichbar wäre. Es dürfte sich somit um einen ersten Versuch Michael Thonets handeln, Beistellsessel – in Wien „Laufsessel“ genannt - in der Art der Bopparder herzustellen: „Wiener Bopparder“, angepasst dem eleganten Geschmack der Metropole. Das Prinzip des Seitenrahmenstuhls aus der Bopparder Zeit ist hier nur noch in dem Untergestell erkennbar. Die Rückenlehne ist ein eigenständiges Element.